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Greven, St. Martinus und St. Josef, 19.06.

12. Sonntag i. Jk. 2022

Greven St. Martinus und St. Josef, 19. 06.

 

Einführung

Die große Muschel. … Als wir Kinder waren, wurde die uns gegeben. Wir sollten sie ans Ohr halten. Wie ich werden sich auch andere hier daran erinnern. Als wir gefragt wurden, ob wir das Rauschen hörten, das Rauschen des Meeres, da sagten wir „Ja“ – verwundert, mit verschämtem Stolz.
Irgendwann wurde uns aber auch dieser Glaube genommen. Nein, wurde erklärt, das Rauschen, das du hörst, das ist dein eigenes Blut.
Jetzt bin ich geneigt zu sagen: Ja und? Sind das denn Gegensätze? Schließt sich das denn aus? Werden sie – die Muschel, mein Blut, das Meer – werden sie denn nicht von demselben Rauschen durchströmt, vom Atem Gottes? Ohne ihn könnten wir ja auch keine Wesen sein, die Luft holen, nein, von Luft leben – von Luft und von Liebe. Ein Luftschloss kann sie sein, unsere Existenz, königliche Residenz für die Liebe.

 

Predigt (Sacharja 12,10-11; 13,1, Psalm 63,2-6.8-9; Galater 3,26-29; Lukas 9,18-24)

Aus dem Gebet in der Einsamkeit kommt Jesus auf seine Weggefährten zu. Von ihnen will er wissen: „Für wen halten mich die Leute?“ Und als die Antwort gegeben ist, belässt er es nicht dabei und fragt nach: „Ihr aber, für wen haltet ihr mich?“ Zeigt sich da nicht: Ihm, Jesus, geht es wie uns, wie dir, wie mir? „Wer bin ich?“ – wie Jesus kann auch ich dieses Rätsel nicht lösen, indem ich mich mit dem begnüge, was ich selbst von mir weiß. Ach nein, das genügt einfach nicht. Wirkliches Kennenlernen ereignet sich in der Begegnung. Damit ich mich besser kennenlerne, habe ich Andere nötig.
Uns selbst lernen wir auch besser kennen, wenn und weil wir andere kennenlernten und kennenlernen. Und so sind wir alle hier auch davon geprägt, dass Jesus auf uns zugekommen ist. Seine Frage aus der Einsamkeit seines Gebetes „Ihr aber, für wen haltet ihr mich?“ stellte und stellt er auch mir.
Ja, immer noch möchte Jesus wissen: „Du aber, für wen hältst du mich?“. Auch deswegen ist Jesus nicht nur Vergangenheit, sondern auch Gegenwart, Zukunft – und Ewigkeit. Zu unserm Christsein gehört, dass wir einander ermutigen: „Ja, trau dich. Auch wenn schon so viele auf die Frage geantwortet haben, wer Jesus ist – du sollst, du kannst und du wirst noch etwas hinzufügen. Wie du zu Jesus stehst, ob und wie du ihm folgst – das gab es bisher noch nicht. Denn niemand anders
sieht ihn mit deinen Augen, niemand anders hört ihn mit deinen Ohren. Niemand kann ihn aufnehmen wie du – in deinem Herzen, im Zeugnis deines Lebens, deines Glaubens“.
Wer ist er? Keine Angst, da müssen wir nicht mit wohlgesetzten Worten Auskunft geben! Daran haben wir Theologen und Prediger uns schon die Zähne ausgebissen. Die Kurzformel, die Petrus prägt: „Du bist der Messias Gottes“ – Jesus verbietet streng, dies weiterzusagen. Und anders als im Matthäus-Evangelium geht Jesus bei Markus und Lukas auf die Antwort des Petrus, „Du bist der Messias Gottes“, gar nicht ein. Stattdessen spricht er von seinem bevorstehenden Leiden, dass er verworfen und getötet wird. Die Liebe Gottes, die in ihm erscheint, wird nicht erkannt oder abgelehnt. Dieselbe Erfahrung werden auch Menschen machen, die Jesus folgen. Aber jeder, der sein Leben um seinetwillen „verliert, der wird es retten“ (Lk 9,21.22-24). Davon ist Jesus überzeugt.
Jesus lebt und stirbt nicht für sich selbst, sondern für das Heil der Welt. Deswegen wollen Menschen ihn kennenlernen – weil sich in ihm andeutet, wer sie auch selbst sein könnten, sein möchten. Als Jesus auf einem Esel in die Stadt reitet und eine Menschenmenge ihn voller Erwartung empfängt, gehören auch einige ausländische Gäste zu den Augenzeugen, die nach Jerusalem gekommen sind. Sie treten an Philippus heran und sagen zu ihm: „Herr, wir möchten Jesus sehen“. Philippus geht und sagt es Andreas; Andreas und Philippus gehen und sagen es Jesus. Jesus aber antwortet ihnen: „Die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht wird“ (Joh 12,20-23). Hier beginnt schon die Entgrenzung, die in der Gemeinde Jesu immer weiter um sich greift – sodass Paulus im Brief an die Galater sich darüber freuen kann: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid ‚einer‘ in Christus“ (Gal 3,28).
„Alle ‚einer‘ in Christus“? Ach, wie weit wir davon entfernt sind, das zeigen alle Streitigkeiten und Zerwürfnisse unter Menschen – zwischen einzelnen, Gruppen, Völkern, Kontinenten. Wie furchtbar ist das. Wie kann es uns entmutigen und lähmen. Wie wunderbar aber auch, dass es sie trotzdem gibt: Menschen, die Gegensätze überbrücken, mit versöhntem Herzen Mauern überspringen.
So haben Menschen, die sich zum Islam bekennen, schon vor achthundert Jahren erfahren: Ein Muslim kann Jesus kennen und lieben lernen, ohne sich von seinem islamischen Glauben loszusagen, ohne Bekehrung zum Christentum. So werden immer noch Menschen davon berührt, wie Dschalal ad-Din Muhammad Rumi Jesus gekannt und geliebt hat. Rumi war ein großer Dichter und Mystiker im 13. Jahrhundert. Von ihm ist dieses Wort überliefert: Der Körper, unser menschlicher Körper „ist wie Maria. Wir alle haben Jesus in uns, der wartet, geboren zu werden, aber: Kein Jesus, bevor nicht die Wehen kommen. Wenn die Wehen niemals kommen, kehrt er einfach zur Quelle zurück, entlang den geheimen Wegen, auf denen er kam“.
Sogar Muslime und Christen können also einander ganz wesentlich als Glaubensgeschwister erfahren:
لدينا جميعا يسو ع فينا

In der Liebe zu Jesus, im Liebesverhältnis Jesu zu allen Menschen und der ganzen Schöpfung. Die sufische Mystik hat eine eigene Begabung, sich davon beglücken zu lassen. Begeisterte Freude über Jesus – dieses Charakteristikum im Glauben der Sufis beschreibt Navid Kermani in seinem Buch "Ungläubiges Staunen“ folgen-dermaßen: „Jesus ist der Liebende – nicht nur im Christentum, noch zugespitzter, schillernder im Sufismus, der unter allen Propheten Jesus zur Verkörperung der mystisch-erotischen Liebe erklärt“. Es „ließe sich mit einiger Berechtigung von einem eigenen, islamischen Christentum sprechen. … Man kann Muslim sein und Jesus als seinen – nicht nur: einen – Propheten innerhalb der Offenbarungsgeschichte betrachten“ (Navid Kermani, Ungläubiges Staunen. Über das Christentum (München 2015), S. 48-49).
Unser Leben – Leib, Seele und Geist – dieses Stück Erde, dieses Stück Grund und Boden hat Gott uns überlassen, uns anvertraut. Hier kann seine Liebe aufblühen und Frucht bringen. Gottes Liebe auf unserer Erde und bis in die fernsten Weiten des Weltalls – wie viel ist hier noch zu entdecken! Wenn wir in diese große Muschel hineinhorchen, wenn die ganze Aufmerksamkeit des Herzens Gottes Liebe aufnimmt und wachsen lässt – wie viel Wunderbares kann und wird dann entstehen und gedeihen!

 

Zum Friedensgruß

Schon Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung war Sacharja, Prophet in Israel, überzeugt: Wenn wir Menschen dafür empfänglich sind, kann Gott „einen Geist des Mitleids und des flehentlichen Bittens ausgießen“ (Sach 12,10, 1. Lesung). Und der macht, freut sich eine Stimme in den Psalmen, der „macht Wüste zum Wasserteich, verdorrtes Land zu Oasen“ (Ps 107,35).

 

Schlusswort

„Ihr aber, für wen haltet ihr mich?“ (Lk 9,20). Können wir denn zu dieser Frage – so oft wurde sie schon gestellt, so oft wurde darauf reagiert –, noch etwas Neues beitragen? Jesus ist brennend an unserer Antwort interessiert – besonders, wenn sie nicht nur in Worten gegeben wird, sondern im Zeugnis unseres Glaubenslebens – von Tag zu Tag, in alltäglicher Bewährung und Treue.


Heinz-Georg Surmund

 

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